Strafrechtliche Verfolgung der Kämpfe für Völkerrechtskonformität?

16.02.2017

Categories: Angriffe gegen BDS, BDS-Argumente, Internationales Recht

Der Fall der BDS-Bewegung nach Resolution 2334 des UN-Sicherheitsrates

Luigi Daniele, Nottingham Trent University und Universität Neapel Federico II

 

Die Annahme der Resolution 2334 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UN SR) hat in den letzten Wochen große Aufmerksamkeit erfahren und Debatten ausgelöst. Die Resolution bekräftigte in aller Deutlichkeit, dass die israelischen Siedlungen im seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiet einschließlich Ostjerusalems gemäß internationalem Recht illegal sind.

Eine am Vorabend der Abstimmung des UN SR veröffentlichte wichtige Erklärung hingegen, die von mehr als 200 Jurist_innen und Professor_innen für Internationales Recht unterzeichnet wurde, unter ihnen John Dugard, Guy Goodwin-Gill, Kevin Jon Heller, Robert Kolb, Alain Pellet, Marco Sassòli und William Schabas, blieb nahezu unbemerkt. Das Dokument richtet sich gegen die von mehreren Staaten erlassenen Maßnahmen, die BDS-Bewegung (BDS steht für Boykott, Desinvestition/Investitionsabzug und Sanktionen) zu ächten, zu verbieten und in einigen Fällen zu einem Straftatbestand zu machen. Die Kampagne setzt sich seit Jahren ein für kritisches Konsumverhalten und gegen wirtschaftliche Kooperation nationaler und regionaler Institutionen mit israelischen Unternehmen und Einrichtungen, die sich an der Besetzung des Westjordanlands und an Verstößen gegen die Menschenrechte der Palästinenser_innen beteiligen.

In einer der entscheidenden Passagen der Erklärung heißt es: „Dabei geht es nicht darum, ob jemand die Ziele oder Methoden von BDS billigt. Die Frage ist, ob, um Israel zu schützen, eine Ausnahme im Hinblick auf die Meinungsfreiheit gemacht werden soll, die einen zentralen und entscheidenden Platz unter den grundlegenden Menschenrechten einnimmt. Staaten, die BDS verbieten, untergraben dieses grundlegende Menschenrecht und bedrohen die Glaubwürdigkeit der Menschenrechte, wenn ein Land davon ausgenommen werden soll, es durch friedliche Maßnahmen zur Respektierung der internationalen Rechtsordnung zu bewegen.“

Die in der Stellungnahme angesprochenen Probleme verweisen auf verschiedene Interessenprofile. Es überschneiden sich dabei in der Tat mindestens zwei kritische Ebenen des internationalen Rechtsdiskurses: einerseits auf die zunehmende – auch rechtswissenschaftliche – Auseinandersetzung über den Inhalt und die Grenzen des Rechts auf Meinungsfreiheit, wie es in den Menschenrechtskonventionen verankert ist, andererseits auf die zunehmenden Diskussionen über Perspektiven und Widersprüche der Menschenrechtsbewegungen, über den Niedergang ihres emanzipatorischen Potenzials und die Entstehung einer „dunklen Seite“ dieser Rechte, die ihre Schutzfunktionen verändern und sogar kippen kann.

Mit den folgenden Überlegungen sollen einige Argumente zu den angesprochenen Ebenen der Kritik entwickelt werden, beginnend mit einer kurzen Analyse der Ziele von BDS und der Gesetzesinitiativen für ein Verbot der Kampagne auf der ganzen Welt bis hin zur Betrachtung des israelisch-palästinensischen Konflikts auf Grundlage des Völkerrechts und seiner Verletzungen, wie sie in der Resolution 2334 aufgeführt werden.

Die weltweite BDS-Kampagne hat in letzter Zeit signifikante Wirkung gezeigt.

Aktivist_innen der Kampagne betrachteten es beispielsweise als BDS-Erfolg, dass das britische Sicherheitsunternehmen G4S den größten Teil seiner Geschäfte in Israel verkaufte. Diese waren wegen der Ausstattung israelischer Militärgefängnisse, Checkpoints und Siedlungen mit entsprechendem Equipment und Technologie durch die Firma ins Visier geraten. Außerdem führte die Mobilisierung für einen Boykott nach Meinung vieler Beobachter_innen den Rückzug des französischen Telekommunikationsriesen Orange aus seinem Israel-Geschäft (insbesondere nach der Veröffentlichung eines Berichts, unterzeichnet von zahlreichen NROs und vom französischen Allgemeinen Gewerkschaftsbund CGT, in dem die Beteiligung des Unternehmens an der Infrastruktur der israelischen Besatzung verurteilt wurde).

In den letzten Jahren sah sich die israelische Regierung deshalb veranlasst, Gegenstrategien zu entwickeln, die bei verschiedenen Menschenrechtsorganisationen auf Bedenken stoßen. Im Juli 2011 hatte die Knesset das Bill for Prevention of Damage to the State of Israel Through Boycott (Antiboykott-Gesetz) verabschiedet, das, nachdem ursprünglich geplant war, einen Straftatbestand zu schaffen, das Werben für Boykott nunmehr zivilrechtlich ahndet.

Mehrere israelische Bürgerrechts-NROs protestierten gegen das Gesetz, und es veranlasste Organisationen wie Human Rights Watch zur Feststellung, das Gesetz „ersticke die Meinungsfreiheit“.

Die staatlich geförderten Opposition gegen die BDS-Bewegung ist seither sowohl hinsichtlich der Intensität als auch in der Art der Argumente immer radikaler geworden. Im März des vergangenen Jahres zum Beispiel sprach der israelische Geheimdienstminister Yisrael Katz offen über die Notwendigkeit von „gezielten zivilen Eliminierungen“ führender Persönlichkeiten der BDS-Bewegung (eine Formulierung, die auf den Begriff „gezielte Tötungen“ anspielt, eine israelische Praxis des gezielten Vorgehens gegen Mitglieder bewaffneter palästinensischer Gruppen). Dies veranlasste Amnesty International zu einer harschen Erklärung und der Aufforderung an die israelische Regierung, „die Einschüchterung von Menschenrechtsverteidiger_innen zu beenden“ und „sie vor Angriffen zu schützen“. Mehreren israelischen Zeitungen zufolge hat die israelische Regierung 2015 (zur Untermauerung dessen, was einige Kommentator_innen eine „Kriegserklärung“ gegen die Kampagne genannt haben) rund 100 Millionen NIS (26 Millionen Euro) für interne und internationale Aktivitäten gegen die Bewegung zur Verfügung gestellt. In ähnlicher Weise waren Anti-BDS-Aktivitäten ein wesentlicher Schwerpunkt der mit der israelischen Botschaft in Großbritannien verbundenen verdeckten Lobby-Kampagne (und von Rekrutierungsaktivitäten), die kürzlich von Al Jazeera enthüllt wurde, was zum Rücktritt eines jungen israelischen Diplomaten führte.

Welche Art von "Bedrohung" geht also von der BDS-Bewegung aus? Ist es eine Bedrohung für den Staat Israel? Oder ist es nur eine Bedrohung für seine illegale Besatzung?

Der grundlegende Appell der Kampagne von 2005 (nachzulesen hier),unterzeichnet von Hunderten von palästinensischen Organisationen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen, trägt bezeichnenderweise den Titel: „Aufruf zu Boykott, Desinvestition/Investitionsentzugund Sanktionen gegen Israel, bis dieses internationalem Recht nachkommt und die universellen Menschenrechte einhält(Hervorhebung hinzugefügt)“. In dem Aufruf werden Initiativen zum Investitionsentzug gegenüber Israel „ähnlich den Maßnahmen gegen Südafrika während der Apartheid“ gefordert , um „die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes zu beenden und die Mauer abzureißen“, „die Grundrechte der arabisch-palästinensischen Bürger_innen Israels auf völlige Gleichheit” anzuerkennen und „das Recht der palästinensischen Flüchtlinge” zu respektieren, „in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in der UN-Resolution 194 festgelegt ist“. Diese Aufforderung, die sich auch an „gewissenhafte Israelis um der Gerechtigkeit und einem echten Frieden willen“ richtet, wird von den unterzeichnenden Organisationen offen als „letztes Mittel“ bezeichnet, weil – wie sie betonen – „sämtliche internationalen Interventionen und Friedensbestrebungen nicht in der Lage waren, Israel zu überzeugen oder zu zwingen, den Konventionen des Humanitären Rechts genüge zu leisten, die grundlegenden Menschenrechte anzuerkennen und seine Besatzung zu beenden”.

Angesichts dieser eindeutigen Voraussetzungen mangelt es den Argumenten gegen BDS, die der Kampagne im wesentlichen Rassismus und Antisemitismus vorwerfen, wie von etlichen Kommentator_innen geschehen (siehe Hirsh, neben vielen anderen), offenbar an Überzeugungskraft. Vielmehr muss fairerweise darauf hingewiesen werden, dass (ungeachtet dessen, ob man persönlich mit den Argumenten des erwähnten Aufrufs einverstanden ist oder nicht) die völkerrechtliche „Ordnung des Diskurses“ zusammen mit den Schlüsselbegriffen Selbstbestimmung, Schutz der Menschenrechte, Nichtdiskriminierung und Frieden, die Grundpfeiler der Kampagne ausmacht.

Dies geht auch aus der jüngsten UN SR 2334 besonders deutlich hervor, deren Inhalt hervorzuheben scheint, dass die Forderungen der BDS-Bewegung mit ihren zivilgesellschaftlichen Mobilisierungen zahlreiche Warnungen internationaler Institutionen angesichts der jahrelangen, wiederholten Verletzungen des Völkerrechts im Kontext des Nahostkonflikts aufgreift.

Die Resolution verurteilt aufs Schärfste den Bau und die Ausweitung von Siedlungen und die damit verbundene, seit Jahren anhaltende „Beschlagnahme von Land, die Zerstörung von Wohnhäusern und Vertreibung palästinensischer Zivilpersonen“. Der Sicherheitsrat betonte deshalb, dass „der Status quo nicht aufrechtzuerhalten ist“, da er „die Zwei-Staaten-Lösung immer weiter untergräbt und eine Ein-Staaten-Realität zementiert“.

Die Resolution fordert auch Drittstaaten auf, „in ihren jeweiligen Beziehungen zwischen dem Hoheitsgebiet des Staates Israel und den seit 1967 besetzten Gebieten zu unterscheiden“, und bekräftigt vor allem die Verpflichtung Israels, „jegliche Siedlungstätigkeit einzufrieren und alle seit März 2001 errichteten Siedlungsaußenposten abzubauen“.

Trotz der vehementen Reaktionen der israelischen Regierung bekräftigt die Resolution die Orientierung, die von verschiedenen internationalen Institutionen bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht wurden. Für eine kurze Rekonstruktion der völkerrechtlichen Terminologie zur israelischen Besatzung ist es sinnvoll, sich insbesondere das bekannte Gutachten des Internationalen Gerichtshof (IGH) über die Rechtsfolgen des Baus einer Mauer im besetzten palästinensischen Gebiet ins Gedächtnis zu rufen. Der IGH kommt darin zum Schluss, dass die israelischen Siedlungen im Westjordanland gemäß internationalem Recht illegal sind und gegen Artikel 49, Abs. 6 der Vierten Genfer Konvention von 1949 verstoßen, nach der es einer Besatzungsmacht verboten ist, „Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet umzusiedeln“.

Diesem Verbot kommt unter den Quellen des humanitären Völkerrechts zudem deshalb besondere Bedeutung zu, weil es: 1) als humanitäres Völkergewohnheitsrecht begründet ist und 2) hier als eine schwerwiegende Verletzung des Übereinkommensschutzsystems nach Art. 85 Abs 4(a) des ersten Zusatzprotokolls von 1977 der Genfer Konventionen über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte beurteilt wird. Dieser Artikel diente in der Folge als Vorlage für die Ausarbeitung des Tatbestands eines Kriegsverbrechens im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, in dem das fragliche Verhalten in Art. 8 (2) (b) (viii) tatsächlich kodifiziert ist.

Aus diesen Gründen wird in der Resolution daran erinnert, dass die israelische Siedlungspolitik „keine Rechtsgültigkeit hat“ und eine „offenkundige Verletzung“ der Vierten Genfer Konvention darstellt (unter erneuter Wiederholung zahlreicher früherer Erklärungen des Sicherheitsrats, angefangen mit den Feststellungen der Resolutionen 446 und 452 von 1979 bis hin zu denen des IGH im genannten Gutachten, vgl. Abs. 120).

Selbst das Vierte Haager Abkommen von 1907 enthält Vorschriften, die für die fragliche Situation von Belang sind. In der Anlage zum Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, genauer gesagt im Art. 55, heißt es: „Der besetzende Staat hat sich nur als Verwalter und Nutznießer der öffentlichen Gebäude, Liegenschaften, Wälder und landwirtschaftlichen Betriebe zu betrachten, die dem feindlichen Staate gehören und sich in dem besetzten Gebiete befinden.“ Ferner ist festgelegt, dass der Bestand dieser Güter zu erhalten ist und sie nach den „Regeln des Nießbrauchs“ zu verwalten sind. Zweifellos entspricht das Gesetz zu bewaffneten Konflikten nicht mehr jenem von 1907, doch nach mehreren neueren, speziell dem Besatzungsrecht gewidmeten Revisionen gibt es nur zwei Bedingungen (die eine Weiterentwicklung des erwähnten Artikels darstellen), die die Ausübung wirtschaftlicher Aktivitäten im besetzten Gebiet durch die Besatzungsmacht rechtfertigen, nämlich: 1) das Vorliegen von zwingenden Gründen militärischer Notwendigkeit und 2) dass sie der Bevölkerung unter Besatzung zugute kommen (vgl. Arahi Takahashi, S.169 u.a.).

Auf innerstaatlicher Ebene haben israelische Gerichte auf diese Bedingungen in verschiedenen Fällen Bezug genommen (vgl. Urteil des Obersten Gerichtshofs von Israel zu Beth El [Ayub et al., Verteidigungsministerium et al, HCJ 610/78] und Elon Moreh and Cooperative Society [Duweikat et al., Regierung von Israel et al., HCJ 390/79]), während die Regierung ihren bindenden Charakter nicht anerkannt hat. Im Gegenteil, die Knesset hat in den vergangenen Wochen das umstrittene Regulierungs-Verordnungsgesetz diskutiert, das, sollte es verabschiedet werden, rückwirkend den Bau tausender Häuser legalisieren würde, die unter Verletzung der oben genannten Grundsätze durch rechtswidrige Enteignung palästinensischen Privatbesitzes errichtet wurden (vgl. Ronen und Shani ).

Die Auswirkungen der israelischen Besatzung stehen auch in Widerspruch zu mehreren Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen. Das international wiederholt anerkannte Recht auf Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes (siehe auch das IGH-Gutachten, cit., Abs 149) wird durch die territoriale Zersplitterung aufgrund des fortgesetzten Wachstums und der Vervielfachung der Siedlungen deutlich behindert und untergraben (siehe Ben-Naftali, Gross u. Michaeli u.a.).

Ähnlich lässt sich in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen die Verwendung von Begriffen wie „Apartheid“ und „Segregation“ nicht auf eine willkürliche Behauptung von Aktivisten_innen reduzieren, insbesondere wenn man die begriffsbestimmenden Merkmale der beiden Phänomene in der Konvention über die Unterdrückung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid von 1973 und das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung von 1965 heranzieht, wie es zahlreiche und angesehene Jurist_innen getan haben, die vielfach die Auffassung teilen, dass es „tatsächlich erhebliche Anhaltspunkte gibt, die die Schussfolgerung zulassen, dass im besetzten palästinensischen Gebiet ein Apartheidsystem entstanden ist“ (Dugard u. Reynolds, S. 912).

In Betrachtung all dieser juristischen Analysen gehen Wissenschaftler_innen weitaus kategorischer als die BDS-Kampagne nicht nur von einer Möglichkeit, sondern von der internationalen Verpflichtung von Drittstaaten aus, keinen Handel mit Produkten aus israelischen Siedlungen im besetzten palästinensischen Gebiet zu treiben (siehe Moerenhout hier und hier; contra Kantorowitsch und Crawford). Einer der meistdiskutierten Aspekte in dieser Debatte ist die Frage, ob es eine selbst-bindende Verpflichtung der Nicht-Anerkennung von Drittstaaten in Bezug auf Besatzungen und Annexionen gibt, die das Verbot von Aggressionen und das Prinzip der territorialen Integrität von Staaten verletzen, oder nicht.

Es ist in diesem Zusammenhang legitim, einen Vergleich mit der Annexion der Krim durch die Russische Föderation zu ziehen. Der Europarat antwortete auf die Annexion mit Einfuhrverboten aus der Region sowie Sewastopol (siehe Schlussfolgerungen des Rates von März 2014). Das Thema bleibt umstritten (siehe Milano). Dass eine solch offene und anspruchsvolle Rechtsdebatte stattfindet, lässt jedenfalls die juristischen Angriffe auf die BDS-Bewegung durch Staaten in einem besonderen eklatanten Licht erscheinen.

Bezeichnenderweise genügte die Tatsache, dass die Kampagne eindeutig internationale Konventionen, Resolutionen der UN-Vollversammlung und des Sicherheitsrats sowie relevante Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs aufgreift, in der politischen Debatte nicht, um den fälschlichen Unterstellungen gegenüber dieser friedlichen Form der Mobilisierung (die beabsichtigt, die politischen und militärischen Entscheidungen einer Regierung zu beeinflussen) den Boden zu entziehen, es handle sich um eine Aufstachelung zu rassistischer Diskriminierung auf ethnischer oder nationaler Basis. Ebenso wenig ist es gelungen, juristische Vorstöße zu verhindern, die jene höchst umstrittene Sicht bezüglich der Kampagne als unwiderlegliche Vermutung (juris et de jure) durchzusetzen versuchen.

Diese Initiativen sind zu zahlreich und vielfältig, um hier eingehend untersucht werden zu können. Sie sollen aber anhand einiger Beispiele erhellt werden.

In den USA wurden die fraglichen Maßnahmen meist in Form von auf Ebene einzelner Bundesstaaten eingeführten Gesetzen ergriffen, die jegliche wirtschaftliche Zusammenarbeit mit und die Vergabe von öffentlichen Aufträgen an Unternehmen verbieten, die sich an Boykotten gegen Drittstaaten jenseits offizieller Sanktionen oder Embargos beteiligen. Besonders explizit ist neben anderen die Gesetzgebung von Illinois, die zur Ausarbeitung einer Schwarzen Liste von Firmen führte, die sich „an Aktivitäten beteiligen, die politisch motiviert sind und darauf abzielen, den Staat Israel oder Unternehmen, die israelischen Staat oder in vom israelischen Staat kontrollierten Gebieten angesiedelt sind, zu benachteiligen, ihnen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen oder die Wirtschaftsbeziehungen mit ihnen anderweitig einzuschränken“. Der bundesstaatlichen Pensionskasse wurde verboten, mit solchen Firmen Verträge abzuschließen oder in sie zu investieren (siehe dazu die Anpassungen im Pensionskassengesetz). Von anderen Bundesstaaten wurden ähnliche Schritte beschlossen oder werden geprüft (siehe den Kommentar in der Harvard Law Review zum Gesetz H.3583 in South Carolina).

In Kanada stimmte im Februar 2016 das Parlament einem Antrag zu, der sich gegen die BDS-Kampagne richtete, die gemäß Wortlaut „die Dämonisierung und Delegitimierung des Staates Israel“ fördere. Die Regierung wurde aufgerufen, „jeden Versuch seitens einer kanadischen Organisation, Gruppe oder Einzelperson, die BDS-Bewegung voranzubringen, zu verurteilen“. Einzelne Stimmen sprachen sich zudem dafür aus, die Unterstützung oder Förderung des Boykott dem Tatbestand der Volksverhetzung zu unterstellen.

In Großbritannien verabschiedete die Regierung im Februar 2016 in der erklärten Absicht, BDS entgegenzuwirken, eine umstrittene Richtlinie zu öffentlichen Beschaffungen, die im Wesentlichen von lokalen Institutionen, öffentlichen Körperschaften und Behörden verlangt, Beziehungen zu Unternehmen abzubrechen, die Boykottkampagnen mittragen – sofern nicht die Regierung selbst „formelle gesetzliche Sanktionen, Embargos und andere Einschränkungen“ verhängt hat. Gleichzeitig wies der britische Oberste Gerichtshof im Juni 2016 eine Beschwerde der Organisation Jewish Human Rights Watch gegen die Stadtverwaltungen von Leicester, Swansea und Gwynedd ab, die einem Boykott von Siedlungsprodukten aus dem Westjordanland zugestimmt hatten.

Besonders aufschlussreich stellt sich die rechtliche und gesetzgeberische Lage in Frankreich dar. Das Land von Charlie Hebdo ist als einziger Staat neben Israel auf dem Weg, Bürger_innen selbständig strafrechtlich zu verfolgen, die einen Boykott israelischer Produkten propagieren. Nach Artikel 225-2 § 2 des französischen Strafgesetzbuchs können Personen, die aufgrund einer Diskriminierung oder Aufforderung zur Diskriminierung aus Gründen der Herkunft oder Staatsangehörigkeit „die Ausübung einer wie immer gearteten Wirtschaftstätigkeit behindern“ , mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden.

Ein unter französischen Rechtsgelehrten heftig diskutierter Fall betrifft eine Anklage, die auf der Grundlage unterschiedlicher Rechtsnormen des genannten Strafrechtsartikels erhoben wurde. Im Oktober 2015 bestätigte die Strafkammer des Kassationsgerichts die Anklageschrift und das Urteil des Kolmarer Berufungsgerichts gegen eine Gruppe von Aktivist_innen, die in einem Supermarkt Flugblätter verteilt hatten, die zum Boykott von israelischen Produkten aufriefen. Die Richter_innen erklärten, das Berufungsgericht habe sich im vorliegenden Fall zu Recht auf Artikel 24 § 8 des Gesetzes über die Pressefreiheit gestützt, der den öffentlichen Aufruf zur Diskriminierung unter Strafe stellt und rechtmäßig gehandelt, indem es die betreffenden Aktivitäten von der in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgehaltenen Meinungsfreiheit ausgenommen hat. Laut dem Urteil hätten die Angeklagten zur Diskriminierung aufgerufen, indem sie Kund_innen aufforderten, Produkte einer bestimmten Herkunft nicht zu kaufen. In diesem Fall sei nach Art. 10 § 2 der EMRK eine Einschränkung der Meinungsfreiheit zum Schutz der Rechte von Drittpersonen nötig (Cass. Crim., 20 octobre 2015, No. 1480021, hierzu finden). Die Argumentation des Kassationsgerichts wurde von vielen Seiten kritisiert (zum Beispiel von Médard), da es die Unterscheidung zwischen Produkten und Produzent_innen untergräbt und nicht ausreichend klarstellt, inwiefern die „Anstiftung“ zum Boykott rassistisch oder fremdenfeindlich motiviert gewesen sei.

Auch in Italien wurde dem Senat ein Gesetzesentwurf zur Prüfung vorgelegt, der die BDS-Bewegung unterdrücken soll. Der Vorschlag enthält neue Ergänzungen zum italienischen Ratifizierungsgesetz für das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, um mit Gefängnis von sechs Monaten bis vier Jahren zu bestrafen, wer „die Ausübung einer wie immer gearteten Wirtschaftstätigkeit” aus Gründen der Diskriminierung natürlicher und juristischer Personen aufgrund ihrer „Zugehörigkeit zu einer nationalen, ethnischen, rassischen, religiösen, staatlichen oder territorialen Gruppe“ behindert, und mit Gefängnis von bis zu sechs Jahren, eine solche Bewegung fördert oder leitet..

Solche Fälle der Kriminalisierung verweisen auf ernsthafte Gefahren. Insbesondere besteht die Gefahr, dass mit den Argumenten zur Einführung dieser Gesetzesartikel (und der Rhetorik ihrer Befürworter_innen) gerade jene Gruppen angeklagt zu werden drohen, die eigentlich vor Diskriminierung geschützt werden sollten: etwa die zahlreichen Fälle unerschrockener zionistischer Kommentator_innen, jüdischer Organisationen und sogar Holocaust-Überlebender, die in den letzten Jahren den Boykott unterstützt haben. Wenn nun, wie in den Gesetzesartikel angenommen, die Aufforderung zum Boykott israelischer Produkte mit dem Aufruf zu rassistischer Diskriminierung oder Antisemitismus gleichzusetzen ist, kann es durchaus sein, dass gerade diese Kommentator_innen für derselben Vergehen angeklagt werden wie Aktivist_innen und führende Mitglieder der BDS-Bewegung.

Die Widersinnigkeit dieser Gesetzesinitiativen ist jedoch allgemeiner und komplexerer Natur. In den erwähnten Gesetze und Gesetzesentwürfen wird das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung indirekt zur Grundlage der strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung jener Bürger_innen, die sich aktiv dafür einsetzen, dass Staaten die darin beschriebenen Rechte respektieren. Tatsächlich werden gerade die nationalen Gesetze zur Ratifizierung des Übereinkommens angepasst, um diejenigen zu bestrafen, die sich für die Verbindlichkeit der im Übereinkommen enthaltenen Rechte einsetzen.

Diese Ausführungen treffen den Kern der anfangs erwähnten heiklen Punkte und offenbaren einen klaren Kurzschluss im Völkerrechtsdiskurs: die Möglichkeit, dass auf staatlicher Ebene nicht Völkerrechtsverletzungen, sondern der Kampf für deren Bekräftigung und internationale Rechtmäßigkeit als gesetzeswidrig angesehen und unterdrückt wird.
Kaum etwas zeigt treffender die „dunkle Seite“ der Menschenrechte als die Zunahme repressiver Verfahren, die viel zu oft im Strafrecht das wichtigste Instrument zur wirksamen Durchsetzung der Menschenrechte sehen. Dabei wird die potenziell „subversive“ Dimension (siehe Manacorda, S. 338) bezüglich des Schutzes dieser Grundrechte übergangen, die mit dem Ausbau staatlicher Strafsysteme und der zunehmenden Ausrichtung staatlicher Strafpolitik auf eine rein symbolische Funktion einhergeht (siehe Moccia, S. 123ff.).
Dabei zeigt sich auch deutlich der Zusammenhang zwischen dieser „dunklen Seite“ und einem weiteren Phänomen: der Transformation des Menschenrechtsdiskurses in eine allgemeine, weltweit verwendete Sprache, die umso mehr an Tiefe und Wirksamkeit zu verlieren scheint, als sie sich ausbreitet. Ein Diskurs, der zunehmend unterschiedlichste Akteure und Machtträger der weltpolitischen Bühne zusammenführt und von ihnen angeeignet wird, seien es Herrschende oder Beherrschte, Kolonisierende oder Kolonisierte, hegemoniale oder subalterne, autoritäre oder liberale Kräfte. Aufstieg und Niedergang der Menschenrechte scheinen aus dieser Sicht in einer fortwährenden Bewegung von Aufhebung und Umkehrung ihrer beschützenden Funktion dazu bestimmt, nebeneinander zu bestehen, sich immerfort abzuwechseln und sogar gleichzeitig aufzutreten.

Menschenrechte tendieren zum Universellen, doch mit dem Universalismus einher geht eine Neigung zur Entpolitisierung und zur Beseitigung der widersprüchlichen Dynamiken, aus denen die Menschenrechte ursprünglich hervorgegangen sind und denkt das Menschliche in den Konventionen zunehmend losgelöst vom Spannungsfeld, in dem die Menschen als historische und politische Subjekte leben/existieren und handeln. Je mehr versucht wird, die universalistischen Implikationen dieser Rechte und ihre scheinbare Neutralität auszuweiten, desto umfassender wird die Tendenz zur Transformation der Sprache des Menschenrechtsdiskurses in ein Kaleidoskop von Übersetzungen und Ansprüchen, um Einzelinteressen zu verallgemeinern. Dabei werden die Konzepte von Missbrauch, Täter_in und Opfer je nachdem, wer in einer bestimmten Situation als „Übersetzer_in“ auftritt, in dramatischer Weise austauschbar (siehe Gordon und Perugini).

Dieselbe Verwässerung ist zunehmend auch im humanitären Völkerrecht oder Kriegsrecht zu beobachten. Während dieser Prozess auf der einen Seite der Entstehungsgeschichte und der Struktur des humanitären Völkerrechts inhärent, dessen Anwendung von einer relativen Irrelevanz der politischen Absichten der kriegsführenden Parteien und dem Prinzip der Nicht-Reziprozität ausgeht, zeigen auf der anderen Seite bewaffnete Konflikte wie in Syrien, dass diese Tendenz eine Art Verherrlichung der Gesetzlosigkeit erreicht hat. Der Diskurs über den Schutz der Zivilbevölkerung im Krieg wird zunehmend zu einem rhetorischen Mittel degradiert, das von den Konfliktparteien beliebig verwendet wird, um angebliche „universelle“ Gründe (Krieg gegen den Terror, humanitäre Interventionen etc.) für die eigenen militärischen Interventionen geltend zu machen - üblicherweise, um den willkürlichen Charakter der Intervention zu rechtfertigen.

Wem nützt also die Entscheidung, diese Sprache der Menschenrechte zu wählen? Und können kollektive nichtstaatliche Subjekte im Gegensatz zu transnationalen Hegemonialmächten diesen Rechten erneuert ihre historische fortschrittliche Funktion verleihen?
Konzepte wie das „Ende“ oder der „Untergang“ der Menschenrechte und deren emanzipatorischem Potenzial finden zunehmend Eingang in die Debatten über Menschenrechte (siehe insbesondere Hopgood und Posner). Besonders wichtig ist hier der Standpunkt jener, diehervorheben, dass in Zeiten des Neoliberalismus das, was sich den Möglichkeiten des Menschenrechtsdiskurses entzieht und seine Wirksamkeit aufhebt, die Annahme ist, Gleichheit sei ein entscheidender Faktor für die Transformation der Realität Wie bereits treffend festgestellt wurde, sind „Menschenrechte, selbst bei einwandfreier Umsetzung, mit radikaler Ungleichheit kompatibel“ (siehe Moyn und ausführlicher hier).

Trotzdem scheinen die von Kampagnen wie BDS provozierten Kurzschlüsse auch eine Chance zu zeugen: Einerseits kann der Meinung der Rechtsexperten, welche die zu Anfang erwähnte Erklärung unterzeichnet haben, recht gegeben werden, dass BDS eine Kampagne ist, die auf der Meinungsfreiheit und dem Recht auf eine abweichende politische Meinung beruht und als solche auch von denjenigen zu schützen ist, die ihre Forderungen nicht teilen. Andererseits wird mit diesem Standpunkt ein entscheidender Aspekt übersehen: Ein zentrales Merkmal von Kampagnen wie BDS ist, dass sie über die individuelle Dimension der Menschenrechte und eine reine Absichtsbekundung hinausgehen. Dadurch werden diese Rechte in eine Plattform für kollektives Handeln verwandelt, durch die die Zivilgesellschaft, auch wenn sie weiterhin diese „hegemoniale Sprache verwendet, Druck aufzubauen vermag gegen die tiefgreifenden Ungleichheiten in der Frage, wer in den Genuss von Menschenrechten kommt, wie auch die selektive, von den jeweiligen Machtverhältnissen abhängige Entscheid darüber, gegen wen bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen Sanktionen verhängt werden.

In dieser Hinsicht erinnern die erwähnten zentralen Punkte an die Standpunkte jener Jurist_innen, die das Denken Antonio Gramscis und seiner Theorie der Hegemonie zu aktualisieren versuchen, indem sie es auf die internationale Ebene übertragen. Einige betonen mit Bezug auf die „Gefängnishefte“ des italienischen Intellektuellen die taktische und strategische Bedeutung von konsumkritischen Bewegungen im globalen Kampf für die Durchsetzung gleicher Menschenrechte für alle.

In der Absicht, das transformative Potenzial einer Theorie des Völkerrechts „von unten“ aufzuzeigen, argumentieren sie, dass transnationale dominierende Kräfte der Theorie von Gramsci zufolge selbst auf internationaler Ebene ihre sozialen Gegner_innen auch deshalb beherrschen können, weil sie die Zustimmung ihrer sozialen Verbündeten erhalten. Deshalb sollten Völkerrechtler_innen Staaten „als mehrschichtige, fragmentierte und umstrittene Entitäten und nicht als monolithisch“ betrachten. Eine solche Sichtweise anerkennt, dass wie im vorliegenden Fall „das Völkerrecht und internationale Institutionen wichtige Freiräume für die Tätigkeit sozialer Bewegungen bieten“ (siehe Rajagopal, S. 19 bis 23).

Schließlich ist die Möglichkeit, die Grenzen der Menschenrechte auszuloten, ein zentraler Bestandteil des historischen Prozesses ihrer Kodifizierung. Tatsächlich weisen viele Wissenschaftler_innen als Gegentendenz zur Betonung des eurozentristischen und kolonialistischen Gedankenguts, das hinter dem Aufstieg des modernen Völkerrechts steht, darauf hin, wie sehr die Bedeutung der gegenteiligen Weltanschauung der Entkolonialisierung unterschätzt wurde, um die entscheidenden Bemühungen von Politiker_innen, Jurist_innen und Diplomat_innen des globalen Südens bei der Festlegung der Menschenrechtsagenda zwischen 1948 und den 1960ern aufzuzeigen (siehe die wichtige Arbeit von Jensen, in übersichtlicher Form hier).

Zusammenfassend gilt es nicht nur festzuhalten, dass das Recht auf Boykottkampagnen zur Durchsetzung grundlegender Menschenrechte nicht nur von allen Rechtsgelehrten, Gesetzgeber_innen und Bürger_innen, die sich der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet fühlen, geschützt werden sollte, sondern dass Kampagnen wie BDS im Gegensatz zu deren bloßer Deklaration neue Perspektiven zivilgesellschaftlicher und politischer Menschenrechtspraktiken schaffen. Solche Perspektiven kommen denjenigen zugute, die beabsichtigen, diese Rechte in ihrem dialektischen Verhältnis mit internationalen Mächten „eher auf den Füssen stehen als kopfüber hängen zu lassen“.

 

Dieser Artikel wurde zuerst auf Italienisch auf dem Blog der Italienischen Gesellschaft für Völkerrecht veröffentlicht.

Übersetzung BDS Berlin und BDS Schweiz

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