Die Katastrophe vor der Katastrophe

14.05.2021

Categories: Apartheid und Siedlungskolonialismus, BDS-Argumente, Palästinensische Flüchtlinge

von Birgit Althaler

Anfang 1949 machte der Anteil der jüdischen Bevölkerung im ehemaligen Mandatsgebiet Palästina 80 Prozent der Bevölkerung aus und sie hatte 77 Prozent des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Zwei Jahre zuvor belief sich der Anteil der jüdischen Bevölkerung auf weniger als ein Drittel und der private oder gemeinschaftliche jüdische Landbesitz beschränkte sich auf rund 7 Prozent.

Über 400 palästinensische Ortschaften wurden in diesen zwei Jahren ihrer Bevölkerung entleert und später zerstört. Die PalästinenserInnen in den Städten wurden grösstenteils ebenfalls vertrieben, sodass sie etwa in Jaffa, Haifa und Tiberias zu einer kleinen Minderheit wurden. Intakt blieben nur 81 palästinensische Dörfer und eine einzige Stadt, Nazareth. Diese wird seither und bis heute, wie die anderen palästinensischen Gemeinden und Stadtteile, an jeder wirtschaftlichen Expansion, z.B. durch Schaffung von Industriezonen oder Einkaufszentren ausserhalb des damaligen Stadtgebiets, gehindert.

Dimension der Aneignung

Neben Grundbesitz liessen die palästinensischen Flüchtlinge Häuser und Wohnungen samt Mobiliar und Hausrat, Vieh, Fahrzeuge und landwirtschaftliche Geräte, Gebäude wie Schulen, Kliniken und Spitäler, Moscheen und Kirchen, Geschäfte, Büros, Einkaufszentren, Werkstätten und Unternehmen mit ihren Lagerbeständen, Banken mitsamt deren Guthaben, Verkehrsmittel und Telekommunikation, öffentliche Parks und vieles mehr zurück. Für die Minderheit der im Land gebliebenen PalästinenserInnen änderten sich die Rahmenbedingungen radikal. Die Bauern hatten oft keinen Zugang mehr zu ihrem Land und oft auch nicht zu ihren Häusern. Für Gewerbetreibende und Händler brachen Versorgungs- und Absatzmärkte zusammen. Die Kontrolle über die ganze Infrastruktur sowie die Ressourcen fiel in die Hände einer kolonialen Bewegung, deren Absicht war, die ursprüngliche Bevölkerung zu ersetzen. Westjordanland und Gazastreifen behielten zwar ihren arabischen Charakter, doch die Lage war geprägt durch die plötzliche Notwendigkeit, eine riesige Flüchtlingsgemeinschaft zu versorgen, und durch die Abgeschnittenheit vom restlichen Land. „Materiell zerschlug die Nakba die sozioökonomischen Strukturen Palästinas. Die arabische Wirtschaft wurde praktisch zerstört“, schreibt der Historiker und Nahostexperte Michael R. Fischbach.

Der Wert des zurückgelassenen privaten Grundbesitzes, also ohne gemeinschaftliches Weideland, Gemeindebesitz etc., wurde von einer UN-Kommission (nach damaligem Wert) auf rund 820 Millionen $ geschätzt, spätere Berechnungen von palästinensischen Ökonomen und anderen Fachleuten kommen auf rund 1625 Mio. $ an verlorenem Land, 954 Mio. $ an zurückgelassenen Gebäuden und bis zu 453 Mio. $ an beweglichem Eigentum. In Bezug auf Dimension und Geschwindigkeit dieser völligen Umformung des Landes innerhalb von knapp eineinhalb Jahren nehmen sich andere koloniale Eroberungen vergleichsweise bescheiden aus. Der zionistischen Bewegung und dem neu ausgerufenen Staat Israel bescherte die Nakba eine enorme Kriegsbeute an wirtschaftlichen Ressourcen, für die bis heute keinerlei Kompensation, geschweige denn Rückerstattung geleistet wurde.

Historisches Kapital des Siedlerkolonialismus

Für die PalästinenserInnen wie für die zionistische Bewegung stellt die Nakba unbestritten einen Wendepunkt dar. Der Fokus auf die Nakba als Katastrophenereignis und erst recht deren völlig falsche Reduzierung auf einen Krieg zwischen dem zukünftigen Staat Israel und seinen arabischen Nachbarländern blenden die Vorgeschichte und die kolonialen Rahmenbedingungen des zionistischen Projekts in Palästina jedoch weitgehend aus. Diese These vertritt der australische Anthropologe Patrick Wolfe, der sich intensiv mit verschiedenen Formen des Siedlerkolonialismus befasst hat. In einer Untersuchung über die Vorbedingungen der Nakba weist er auf Ähnlichkeiten des Zionismus mit anderen Kolonialbewegungen, aber auch auf Besonderheiten des zionistischen Projekts hin.

Der Zionismus als klassisches Beispiel eines Siedlerkolonialismus ist gekennzeichnet durch die Absicht, die einheimische Bevölkerung durch die SiedlerInnen tendenziell zu ersetzen. Wie andere Kolonialbewegungen konnte auch der Zionismus ein historisches Kapital aus wirtschaftlichem, technologischem, militärischem und kulturellem Wissen mobilisieren, das sich auf die jahrhundertelange Erfahrung des europäischen Kolonialismus stützt. Ein dynamisches und personell wie finanziell fast unerschöpflich erneuerbares Kapital prallte auf eine einheimische Gesellschaft mit relativ beschränkt erneuerbaren Ressourcen. Palästina war durch die koloniale Politik des Osmanischen Reichs und Grossbritanniens bereits marginal in den globalen Kapitalismus eingebunden. Die zionistische Bewegung trat das Erbe der niedergehenden Kolonialmacht Grossbritannien an und wurde von dieser rechtlich, materiell, logistisch und militärisch unterstützt. Von anderen siedlerkolonialen Bewegungen unterschied sich der Zionismus aber in zwei wesentlichen Aspekten: Zum einen vermied sie als weltweite Strömung die enge Anbindung an ein einziges „Mutterland“. Das Finanzkapital wurde weltweit aufgetrieben, das Humankapital vor allem aus Osteuropa, während die führenden Köpfe eher aus Westeuropa stammten. Mit dieser relativen Ungebundenheit konnten die eigenen Interessen pragmatisch und bei Bedarf – vor allem in den kurzen Phasen der Dissonanz, als die britische Mandatsmacht die Zuwanderung und den Landerwerb beschränken wollte – auch gegen den Willen der Kolonialmacht verteidigt werden.

Schaffung exklusiver Gebiete

Zum anderen legten die Zionisten bis 1947 Wert darauf, Land unter zumindest formaler Einhaltung der bestehenden Kolonialgesetze legal zu erwerben, anstatt sie militärisch zu erobern. Wobei die militärische Dimension bei der Niederschlagung arabischer Proteste durchaus eine Rolle spielte und die zionistischen Milizen dabei mit den Briten kooperierten. Für den Landerwerb wurden der rechtliche Rahmen und die sozioökonomischen Gegebenheiten geschickt und pragmatisch genutzt, etwa durch den Kauf durch Grossgrundbesitzer, die den Boden nicht selbst bewirtschafteten, den Landerwerb durch Mittelsmänner oder die Nichtanerkennung traditioneller Landrechte. Dabei hatte das strategische Ziel der Schaffung von zusammenhängenden Gebieten im Hinblick auf den zu gründenden exklusiv jüdischen Staat oberste Priorität, selbst wenn die Grundstücke ökonomisch keinen besonderen Wert hatten. Zudem blieb ein Teil des Landes unbestellt und wurde im Sinn des strategischen Langzeitziels gekauft, da es von der Anzahl immigrierter SiedlerInnen gar nicht bewirtschaftet werden konnte.

Kein Rentabilitätszwang

Ein weiterer einzigartiger Vorteil des zionistischen Kolonialunternehmens war, dass die Geldgeber aus der globalen zionistischen Bewegung keinen Ertrag aus ihren Investitionen erwarteten. Unter diesen komfortablen Bedingungen konnte sich beispielsweise der Jewish National Fund massiv verschulden, um angesichts drohender britischer Restriktionen beim Landerwerb noch möglichst viel verfügbares Land zu erwerben. Bis heute profitiert der israelische Staat von einer nicht renditegebundenen Kapitalzufuhr, namentlich in Form der finanziellen Unterstützung durch zionistische Organisationen aus aller Welt und der gigantischen Militärhilfe durch die USA, die allein rund fünf Milliarden Dollar jährlich ausmacht.

Die Mischung aus dieser speziellen Form der Finanzierung und dem Gewicht, das auf den Erwerb zusammenhängenden Landes gelegt wurden, bildeten die Grundlage für die als Eroberung der Arbeit (Avoda Ivrit) bekannten Strategie. Dabei ging es im Bereich von Arbeit und Wirtschaft darum, einen von der einheimischen arabischen Bevölkerung separaten jüdischen Sektor aufzubauen. Dieses Konzept wurde ab 1905 von der jüdischen Arbeiterorganisation Hapoel Hatzair eingeführt und kurz darauf von der 1901 gegründeten Zionistischen Weltorganisation begeistert aufgegriffen. Die palästinensischen Unterschichten wurden von den zionistischen SiedlerInnen systematisch ausgegrenzt. Der Histadrut als gewerkschaftsähnliche Vertretung der jüdischen Arbeiterschaft und gleichzeitige Unternehmerin schloss die Mitgliedschaft palästinensischer Arbeitskräfte aus. Auch für diesen Bereich galt, dass wirtschaftliche Rationalität oder die Wettbewerbsfähigkeit mit dem arabischen Sektor anfänglich keinerlei Priorität hatte und entsprechende Mehrkosten bei Bedarf durch die Sponsoren aus der zionistischen Weltbewegung aufgefangen wurden. Auf Dauer entzog dieser hochsubventionierte, aber separate Sektor, ohne den weder die Kibbuzbewegung noch der jüdische Staat lebensfähig gewesen wären, der einheimischen Wirtschaft zunehmend ihre Subsistenzmittel. Unterstützt wurde diese Politik explizit durch Grossbritannien, das in Artikel 6 des Mandatsvertrags, der an die Versprechen der Balfour-Erklärung anschloss, explizit die Erleichterung der jüdischen Immigration, deren Ansiedlung und die „intensive Kultivierung“ des Landes in Zusammenarbeit mit der Jewish Agency vorsah.

Rigoroses Enteignungskonzept

In den genannten Aspekten, die den Zionismus spezifisch auszeichnen, sieht Wolfe eine Intensivierung siedlerkolonialistischer Praktiken. Diese wurden in Palästina durch ein rigoros geplantes Konzept der Enteignung der einheimischen Bevölkerung schon ein halbes Jahrhundert vor der Nakba verfolgt. Der Anteil an Land, den die zionistische Bewegung bis 1947 in ihren Besitz bringen konnte, war nicht besonders gross. Gestützt auf das aus den Metropolen mitgebrachte historische Kapital und die Kombination aus ethnischer Exklusivität und nicht an Rentabilitätskriterien gebundener Finanzierung gelang es aber, ein zusammenhängendes Gebiet zu schaffen, das den im Mandatsgebiet Palästina zu errichtenden Staat vorwegnahm. Die Abstimmung über den Teilungsplan und der bevorstehende Abzug der Briten boten den willkommenen Anlass, der Eroberung des Landes – diesmal mit militärischen Mitteln – in Riesenschritten näher zu kommen und zugleich am Ziel einer ethnisch-religiös exklusiven Gesellschaft festzuhalten. „Vor diesem Hintergrund bedeutete die Nakba lediglich eine, wenn auch radikale, Beschleunigung des […] zuvor nur in ,Slow-Motion‘ möglichen Prozesses der Enteignung der einheimischen Bevölkerung Palästinas, um einen eigenen kolonialen Staat aufzubauen.“

 

Dieser Artikel wurde erstmals in der Zeitschrift "Palästina-Info" im November 2017 veröffentlicht. Das Heft kann auch direkt bei uns abonniert werden. Schick uns deine Adresse!

 

Quellen:

Michael R. Fischbach, Die Katastrophe von 1948, in: Palästina und die Palästinenser, 2011, http://bit.ly/2x3stuQ

Patrick Wolfe: Purchase by other Means, The Palestine Nakba and Zionist’s Conquest of Economics. 2013 http://bit.ly/2wZDOi6

Walter Hollstein, Kein Frieden um Israel. Eine Sozialgeschichte des Palästina-Konflikts. Wien …, (nur antiquarisch erhältlich)

Unter den palästinensischen Fachleuten, die die ökonomische Dimension der Nakba erforscht haben, seien insbesondere der Ökonom Yusif al-Sayigh sowie Salman Abu Sitta genannt. Letzterer hat den Atlas of Palestine 1948 (London 2004) herausgegeben. Siehe auch seine Website www.plands.org

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