Der Apartheid beherzt die Stirn bieten

20.11.2018

Categories: Eurovision, Kultureller Boykott

Offener Brief an das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF)

Genève, Lausanne, Bern, Basel, Zürich, Locarno, 20. November 2018

 

Sehr geehrte Mitglieder der Direktion von SRF

Die Auswahl des Schweizer Beitrags für den Eurovision Song Contest ist in vollem Gang. Bald wird eine Jury das Lied auswählen, mit dem die Schweiz im Final im Mai 2019 vertreten sein könnte. Einige unter Ihnen werden vielleicht aufgefordert, als Teil der Delegation zur Begleitung der preisgekrönten Musiker*innen nach Tel Aviv zu reisen. Es ist uns ein grosses Anliegen, dass Sie wissen, wohin diese Reise gehen soll.

In weniger als einem Monat haben über tausend Einwohner*innen der Schweiz die Petition «Keine Bühne für die Apartheid» unterzeichnet, die von rund 100 Schweizer Kulturschaffenden lanciert wurde. Sie fordern die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG SSR) auf, die Teilnahme an diesem Event abzusagen. Zu den Erstunterzeichner*innen der Petition gehören Evelinn Trouble, Jean-Alexandre Blanchet, Jeans for Jesus, Gisèle Sallin, Heidi Happy, Jonas, La Gale, Marco Zappa, Michel Bühler, Robin Girod, Rootwords, Sarclo, Tamara Bacci, Thierry Meury, Vanni Bianconi, Véronique Mermoud, Vincent Bertholet, Yves Cerf, Yves Massy, Zoltan Horvath sowie das Musikzentrum Sedel in Luzern und das Kulturzentrum L’Usine in Genf.

Wieso fordern Kulturschaffende aus allen Regionen der Schweiz einen Boykott des Eurovision Song Contest in Israel? Weil der israelische Staat nach über 70 Jahren ethnischer Säuberung, Kolonisierung/Besiedlung und andauernder Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung letztlich ein Apartheidregime über diese errichtet hat. Es ist unfassbar, dass ein solches Regime auch im 21. Jahrhundert noch existieren kann. Durch die Austragung des Song Contest im Kontext der Apartheid zieht sich ein düsterer Schleier über den schillernden Glanz dieses Events.

Apartheid ist ein System rassistischer Unterdrückung, das von den Vereinten Nationen verurteilt wird und völkerrechtlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft wird. Es ist gekennzeichnet durch die institutionalisierte Diskriminierung eines Bevölkerungsteils gegenüber einem anderen im selben Gebiet. Der Bau einer Trennmauer und die Kolonisierung des Westjordanlands, die laufende Zerstückelung des palästinensischen Gebiets, die Blockade des Gazastreifens, der so zu einem Ghetto von der Grösse des Kantons Schaffhausen wird, das ständige Schikanieren der palästinensischen Bevölkerung in Jerusalem sowie die Erniedrigung und Entmenschlichung der Palästinenser*innen durch die israelische Armee sind Teil eines Systems, das darauf zielt, dass das palästinensische Volk aus seinem Herkunftsland verschwindet.

Im Rahmen dieses Schreibens lässt sich nicht beschreiben, was alles seit dem Sieg von Netta Barzilai am Eurovision Song Contest im Mai diesen Jahres an für Apartheid kennzeichnenden Ereignissen vorgefallen ist.

Im Gazastreifen schiessen Scharfschütz*innen der israelischen Armee seit März mit scharfer Munition auf palästinensische Protestierende, die sich 100 Meter vom militarisierten Trennzaun entfernt versammeln und im schlimmsten Fall mit Steinschleudern bewaffnet sind. Dieser Zaun sperrt nahezu zwei Millionen Menschen in ein Ghetto ein. Mit ihren Protesten fordern die Palästinenser*innen das ihnen von den Vereinten Nationen zuerkannte Recht auf Rückkehr in ihre Heimat ein und gedenken der «Nakba» vor 70 Jahren – der menschengemachten Katastrophe, die gleichzeitig von den Israelis als Gründung ihres Staates gefeiert wird. Vorläufige Bilanz der Angriffe auf die Protestierenden mit Stand vom 18. Oktober 2018: 217 Tote und über 6000 durch scharfe Munition Verwundete.

Die Vereinten Nationen dokumentieren jeden Monat die Zerstörung palästinensischer Häuser im Westjordanland und in Ostjerusalem sowie die Vertreibung der Bewohner*innen. Allein im September 2018 wurden 29 palästinensische Gebäude abgerissen und 51 Personen vertrieben. Im besetzten Gebiet schützt die israelische Armee die völkerrechtswidrigen Siedlungen und führt gleichzeitig nächtliche, oft blutige Überfälle in palästinensischen Häusern durch. Erwachsene und Kinder werden in israelische Gefängnisse verschleppt und die Familien in Angst und Schrecken zurückgelassen. Diese Brutalität ist Routine.

Am 19. Juli 2018 hat das israelische Parlament ein Gesetz mit dem Titel «Israel, Nationsstaat des jüdischen Volkes» verabschiedet. Dieses rassistische Gesetz mit Verfassungsrang stellt einen Meilenstein in der fortlaufenden Verankerung der Apartheid dar. Es zementiert die ethnische Vorherrschaft von Juden/Jüdinnen über alle anderen im Staat vertretenen Nationalitäten und Religionen. Die arabische Sprache hat nur noch einen nicht genauer definierten «Sonderstatus». Die jüdische Besiedlung wurde zum «nationalen Wert» erhoben. Palästinenser*innen mit israelischem Pass (rund 20% der Einwohner*innen Israels) sind nun offiziell Bürger*innen zweiter Klasse. Die Vorsitzenden der katholischen Kirchen im Heiligen Land haben vor kurzem die vollständige Streichung dieses Gesetzes verlangt, das «eine konstitutionelle und rechtliche Basis für die Diskriminierung unter den Bürger*innen Israels schafft und ganz klar das Prinzip festschreibt, dass jüdische Bürger*innen gegenüber allen anderen bevorzugt behandelt werden müssen». In derselben Logik nahm am 21. Oktober das Gesetz über «kulturelle Loyalität» die erste Hürde im israelischen Parlament. Dieses Gesetz soll den Behörden erlauben, künstlerischen Werken, in denen gewagt wird, den israelischen Unabhängigkeitstag als Tag der Trauer zu präsentieren, jegliche Subvention zu entziehen.

Der israelische Machtapparat hofft, mit dem Eurovision Song Contest nicht bloss offensichtliche Tatsachen zu verschleiern, sondern will sie in den Augen der Weltöffentlichkeit als normal erscheinen lassen. Seit dem Sieg der Sängerin Netta im Eurovision-Final von Mai 2018 haben die israelischen Behörden ihre Absicht kundgetan, den Song Contest für politische Zwecke zu nutzen. Netta hat selbst erklärt, dass ihr Lied dazu beiträgt, «das Image von Israel zu verbessern». Daraufhin hat der israelische Premierminister sie zur «besten Botschafterin Israels» erklärt. Seither sind fast alle Auftritte von Netta ausserhalb Israels von den israelischen Botschaften gesponsert. Doch die Wirkung von Netta schwindet schnell. Die Absage ihres Konzerts in Zürich am 13. November ist ein Zeichen dafür, dass die Öffentlichkeit der inszenierten Begeisterung, mit der Israel sein Image weisszuwaschen versucht, immer misstrauischer gegenübersteht.

Die Schweizer Kulturschaffenden sind nicht alleine mit ihrem Aufruf zum Boykott des Eurovision Song Contests. Nach einem ersten Aufruf, der in der englischen Zeitung The Guardian veröffentlicht wurde, entstanden in Grossbritannien, Island, Irland, Australien, im spanischen Staat und Belgien ähnliche Initiativen. Eine kürzlich von der BDS-Bewegung lancierte weltweite Petition wurde innerhalb weniger Tage von 15'000 Personen unterschrieben.

Die Schweiz, der vorgeworfen wird, in der Vergangenheit viel zu nachsichtig gegenüber dem repressiven Regime in Südafrika gewesen zu sein und es sogar unterstützt zu haben, sollte diese Kritik nicht auf die leichte Schulter nehmen. Gleich ein zweites Mal sollte man sich nicht mit der Apartheid einlassen. Die Führungskräfte und das Personal des öffentlich-rechtlichen Radios und Fernsehens in der Schweiz sollten sich dessen bewusst sein und die notwendigen ethischen bzw. politischen Schlussfolgerungen ziehen. Wer am Eurovision Song Contest in Tel Aviv teilnimmt, muss wissen, dass sie*er mithilft, die unmenschliche Politik Israels zu verharmlosen.

Ebenso wie die Unterzeichner*innen der Petition «Keine Bühne für die Apartheid», fordern wir die SRG SSR auf, von der Teilnahme am Final des Eurovision Song Contest im kommenden Mai in Israel abzusehen. Wir bitten die SRG SSR und ihre Abteilungen auch, das Recht ihrer Mitarbeiter*innen auf Verweigerung zu respektieren und keine Sanktionen gegen diejenigen zu ergreifen, die eine Reise nach Israel aus Gewissensgründen ablehnen. Angesichts der offensichtlichen Apartheid ist es das Mindeste, dass Mitarbeitende, die sich nicht zu Komplizen machen wollen, nicht unter Druck gesetzt werden.

Schauen Sie hinter die glitzernde Fassade! Bieten wir der Apartheid beherzt die Stirn!

Bewegung für Boykott, Desinvestition und Sanktionen in der Schweiz

 

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Häufig gestellte Fragen

Was ist BDS?

2005 hat die palästinensische Zivilgesellschaft – d.h. die wichtigsten Parteien, Gewerkschaften, Organisationen für Flüchtlingsrechte, Universitätsgruppen, bäuerlichen Organisationen, NGO-Netzwerke, Frauengewerkschaften, Jugendbewegungen und andere – einen Aufruf zu Boykott, Desinvestition und Sanktionen gegen den Staat Israel lanciert, bis dieser das Völkerrecht einhält und die Rechte der Palästinenser*innen respektiert (BDS-Aufruf). Die unterzeichnenden Organisationen repräsentieren alle Teile des palästinensischen Volks: die unter Besatzung lebenden PalästinenserInnen im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ostjerusalem, die Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft und die Palästinenser*innen im Exil (vor allem Flüchtlinge). Der BDS-Aufruf ist das am breitesten unterstützte Dokument der letzten Jahrzehnte palästinensischer Geschichte.

Was macht BDS?

Die BDS-Bewegung ist seit 2005 auch in der Schweiz aktiv. BDS Schweiz führt Kampagnen im Bereich des Militärembargos sowie im Konsum- und Kulturbereich. Zum Beispiel hat BDS Schweiz 2015 gegen die «Carte Blanche» protestiert, die das Filmfestival Locarno an Israel vergeben hat.

Wird die Taktik des Boykotts auch in anderen Zusammenhängen angewandt?

Der Begriff «Boykott» wurde 1880 geprägt, als die Irish Land Leage mit einer Kampagne den englischen Gutsverwalter Charles Boykott gesellschaftlich isolierte. Unterschiedliche Formen von Boykotten wurden zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten genutzt, um Unterdrückung zu beenden. Einige Fälle werden heute allseits bejubelt und bewundert, obwohl sie zu ihrer Zeit von den Grossmächten verurteilt wurden. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: der Salzmarsch von Mahatma Gandhi, der Busboykott von Montgomery während des Kampfes der Afro-Amerikaner*innen für ihre Bürgerrechte und die internationale Boykottbewegung, die mithalf, das Apartheidregime in Südafrika zu beenden. Seit Jahrzehnten greifen die Palästinenser*innen in ihrem Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung auf die Taktik des Boykotts zurück. Der BDS-Aufruf ist von dieser reichen Tradition inspiriert.

Viele Staaten begehen Menschenrechtsverletzungen. Wieso soll ich nur Israel boykottieren?

Wir antworten mit dem Boykott von Israel auf den Solidaritätaufruf von Palästinenser*innen. Boykott ist eine wirksame gewaltfreie Taktik und eine von Palästinenser*innen gewählte Form politischen Drucks und nicht ein Versuch, uns als moralisch überlegen darzustellen. Die BDS-Bewegung wird von Palästinenser*innen angeführt.

Die Legitimität des südafrikanischen Boykotts zur Zeit der Apartheid wurde nicht in Frage gestellt, bloss weil gleichzeitig Argentinien ebenfalls systematisch Menschenrechtsverletzungen beging. Auch damals ging es darum, den südafrikanischen Aufruf zum Widerstand aufzugreifen. Der Hinweis darauf, dass auch andere dieselben oder schlimmere Verbrechen begehen, entkräftet nicht die Legitimität dieses Protests, denn sonst müssten alle Forderungen nach Gerechtigkeit zurückgestellt werden, bis jedes einzelne Verbrechen benannt und die schlimmsten Verbrechen geahndet wären. Wem würde dieses Prinzip dienen ausser jenen, die von Straflosigkeit profitieren?

Bestraft der Kulturboykott nicht zu Unrecht israelische und ausländische Künstler*innen sowie kulturbegeisterte Bürger*innen? Steht Kunst nicht über der Politik?

Die BDS-Bewegung ruft nicht zum Boykott von individuellen Künstler*innen auf. BDS zielt auf Institutionen ab, die sich mitschuldig machen an den Völkerrechtsverletzungen der israelischen Regierung. Der Staat Israel setzt die Kultur ganz bewusst ein, um die Aufmerksamkeit von seinen Verbrechen abzulenken. Nach einem brutalen Bombenangriff auf den Gazastreifen im Jahr 2009 liess ein hoher Beamter des israelischen Kulturministeriums die Absicht verlauten, bekannte Schriftsteller*innen, Theatergruppen und Ausstellungen ins Ausland zu schicken mit dem Ziel, «ein schöneres Bild von Israel zu zeigen». Diese Absichtserklärung ist Teil der Kampagne Brand Israel, die 2005 vom israelischen Aussenministerium als Reaktion auf die Boykottbewegung lanciert wurde. Seither müssen mit staatlichen Geldern unterstützte Künstler*innen vor Auslandsauftritten einen Vertrag unterzeichnen, in dem sie sich zur aktiven Förderung der politischen Interessen des Staates Israel verpflichten. Diese Auftritte werden so zu Propagandaaktivitäten mit dem Ziel, die israelische Apartheid zu beschönigen. Auch die staatliche Unterstützung der Sängerin Netta Barzilai, Gewinnerin des Eurovision Song Contests 2018, ist Teil der israelischen Weisswaschungskampagne im Ausland. Wenn umgekehrt ausländische Künstler*innen den Boykottaufruf ignorieren und in Israel auftreten, helfen sie, israelische Verbrechen als Normalität anzuerkennen.

Auch wenn die BDS-Bewegung keine Künstler*innen, sondern vom Regime finanzierte Institutionen boykottiert, wäre es falsch, die Kunstszene in Israel als von Natur aus fortschrittlich und hinter der palästinensischen Forderung nach Gerechtigkeit stehend darzustellen. Tatsächlich tritt nur eine Handvoll israelischer Künstler*innen entschieden gegen die unaufhörliche Gewalt des Staates und für Gleichberechtigung aller ein.Gleichzeitig ist die Repression gegen palästinensische Kulturschaffende und die palästinensische Kultur eine Tatsache. Der Schauspieler Mohammad Bakri wird seit Jahren in Israel wegen seines Mitwirkens in einem Film über das Massaker in Jenin bedrängt. Im Juli 2018 wurde die Dichterin Dareen Tatour zu fünf Monaten Haft verurteilt, weil sie den palästinensischen Widerstand in einem Stück gewürdigt hat. In Ostjerusalem und im Westjordanland werden kulturelle Institutionen regelmässig von den israelischen Besatzungstruppen angegriffen und durchsucht, Künstler*innen werden an der Ausreise gehindert. Im August 2018 wurde im Gazastreifen das Kulturzentrum Said-al-Mishal bombardiert und das gesamte fünfstöckige Gebäude in Schutt und Asche gelegt.

Mich interessiert der Eurovision Song Contest nicht. Wieso soll ich den Aufruf zum Boykott des Wettbewerbs im nächsten Jahr unterstützen?

Sie müssen/Du musst kein Eurovision-Fan sein, um den Boykottaufruf zu unterstützen. Wir rufen nicht zum Boykott des Wettbewerbs an sich auf, sondern zum Boykott der Austragung in Israel, weil die israelische Regierung den Wettbewerb zur Aufpolierung ihres Images nutzt und weil die Palästinenser*innen uns dazu auffordern.

Ist die Forderung nach einem Boykott Israels nicht antisemitisch?

Die BDS-Bewegung stellt sich überall auf der Welt entschieden gegen alle Formen von Diskriminierung und Rassismus, einschliesslich Islamophobie und Antisemitismus. Israel ist ein Staat, keine Person. Jede*r hat das Recht, ungerechte Handlungen und staatliche Politik zu kritisieren. Viele Juden und Jüdinnen*, Studierende, Akademiker*innen, Intellektuelle, LGBTQI*-Aktivist*innen sowie israelische Bürger*innen jüdischer Herkunft unterstützen den BDS-Aufruf und beteiligen sich aktiv an der Bewegung. Wie die amerikanische Organisation Jewish Voice for Peace erklärt, behauptet Israel bloss, im Namen des jüdischen Volkes zu handeln. Doch eine wachsende Zahl von Menschen jüdischer Herkunft lehnt die israelische Politik offen und entschieden ab.

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