Palästinensische Rechte und die IHRA-Antisemitismusdefinition

09.12.2020

Categories: Angriffe gegen BDS, Antisemitismus

Palästinensische und arabische Akademiker*innen, Journalist*innen und Intellektuelle drücken ihre Bedenken über die IHRA-Definition aus.

122 palästinensische und arabische Intellektuelle und Wissenschaftler*innen reagieren in einer öffentlichen Erklärung auf die zunehmende Übernahme der Arbeitsdefinition von Antisemitismus, die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) erarbeitet wurde und auf die Art und Weise, wie sie verwendet wird, um die Unterstützung für die Rechte der Palästinenser*innen in mehreren europäischen und nordamerikanischen Ländern zu unterdrücken. Die Unterzeichner*innen behaupten, dass der Kampf gegen den Antisemitismus von der israelischen Regierung und ihren Anhänger*innen instrumentalisiert wird, um die Unterstützung für die Rechte der Palästinenser*innen zu delegitimieren und zum Schweigen zu bringen.

«Den erforderlichen Kampf gegen den Antisemitismus in den Dienst einer solchen Agenda zu stellen, droht diesen Kampf zu entwürdigen und ihn damit zu diskreditieren und zu schwächen.»

 

ERKLÄRUNG

Wir, die unterzeichnenden palästinensischen und arabischen Akademiker*innen, Journalist*innen und Intellektuellen, erklären hiermit unsere Ansichten zur Definition von Antisemitismus durch die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und zur Art und Weise, wie diese Definition in einigen Ländern Europas und Nordamerikas angewandt, interpretiert und eingesetzt wurde.

In den letzten Jahren ist der Kampf gegen den Antisemitismus von der israelischen Regierung und seinen Unterstützern mehr und mehr instrumentalisiert worden, um die palästinensische Sache zu delegitimieren und Verteidiger der palästinensischen Rechte zum Schweigen zu bringen. Den erforderlichen Kampf gegen den Antisemitismus in den Dienst einer solchen Agenda zu stellen, droht diesen Kampf zu entwürdigen und ihn damit zu diskreditieren und zu schwächen.

Antisemitismus muss entlarvt und bekämpft werden. Unabhängig von der Vorspiegelung von Tatsachen sollte nirgends auf der Welt Hass gegen Juden weil sie Juden sind, toleriert werden. Antisemitismus äussert sich in pauschalen Verallgemeinerungen und Stereotypen über Juden, insbesondere bezüglich Macht und Geld, in Verschwörungstheorien, sowie der Leugnung des Holocaust. Wir glauben auch, dass die Lehren aus dem Holocaust wie auch aus anderen Völkermorden der Neuzeit, Teil der Erziehung neuer Generationen gegen alle Formen von Rassenvorurteilen und Rassenhass sein müssen.

Der Kampf gegen den Antisemitismus muss jedoch prinzipienorientiert geführt werden, damit er seinen Zweck nicht verfehlt. Durch die „Beispiele“, die die IHRA-Definition liefert, vermengt sie das Judentum mit dem Zionismus, indem sie davon ausgeht, dass alle Juden Zionisten sind und, dass der Staat Israel in seiner gegenwärtigen Verfassung die Selbstbestimmung aller Juden verkörpert.

Wir stimmen dem absolut nicht zu. Der Kampf gegen den Antisemitismus darf nicht zu einem Schachzug werden, um den Kampf gegen die Unterdrückung der Palästinenser*innen, die Verweigerung ihrer Rechte und die fortgesetzte Besatzung ihres Landes zu delegitimieren. In dieser Hinsicht halten wir die folgenden Prinzipien für entscheidend:

  1. Der Kampf gegen den Antisemitismus muss im Rahmen des internationalen Rechts und der Menschenrechte geführt werden. Er sollte Teil des Kampfes gegen alle Formen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sein, einschliesslich der Islamophobie und des antiarabischen und antipalästinensischen Rassismus. Das Ziel dieses Kampfes ist es, Freiheit und Emanzipation für alle unterdrückten Gruppen zu garantieren. Es ist vollkommen verzerrt, wenn es auf die Verteidigung eines unterdrückerischen und räuberischen Staates ausgerichtet ist.

  2. Es gibt einen grosser Unterschied zwischen einem Zustand, in dem Juden als Minderheit von antisemitischen Regimen oder Gruppen ausgesondert und unterdrückt werden, und einem Zustand, in dem die Selbstbestimmung einer jüdischen Bevölkerung in Palästina/Israel in Form eines ethnisch exklusivistischen und territorial expansionistischen Staates umgesetzt wird. In seiner jetzigen Form beruht der Staat Israel auf der Entwurzelung der überwiegenden Mehrheit der Einheimischen - das, was von Palästinensern und Arabern Nakba genannt wird - und auf der Unterwerfung der Einheimischen, die noch immer auf dem Gebiet des historischen Palästina leben, entweder als Bürger zweiter Klasse, oder als Menschen unter Besatzung, wobei ihnen ihr Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird.

  3. Die Antisemitismus-Definition der IHRA und die damit zusammenhängenden rechtlichen Massnahmen, die in mehreren Ländern verabschiedet wurden, wurden vor allem gegen linke und Menschenrechtsgruppen eingesetzt, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen, sowie gegen die BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen), wodurch die reale Bedrohung für Juden, die von rechtsgerichteten weissen nationalistischen Bewegungen in Europa und den USA ausgeht, an den Rand gedrängt wurde. Die Darstellung der BDS-Kampagne als antisemitisch ist eine grobe Verzerrung dessen, was im Grunde ein legitimes gewaltfreies Mittel des Kampfes für die Rechte der Palästinenser ist.

  4. Die Aussage der IHRA-Definition, ein Beispiel für Antisemitismus sei die „Verweigerung des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, dass die Existenz eines Staates Israel ein rassistisches Unterfangen sei“, ist ziemlich eigenartig. Es wird nicht anerkannt, dass der gegenwärtige Staat Israel nach internationalem Recht seit mehr als einem halben Jahrhundert eine Besatzungsmacht ist, was von den Regierungen der Länder, in denen die IHRA-Definition respektiert wird, anerkannt wird. Es wird dabei nicht darüber nachgedacht, ob dieses Recht das Recht einschliesst, durch ethnische Säuberung eine jüdische Mehrheit zu schaffen, und ob dies gegen die Rechte des palästinensischen Volkes abgewogen werden sollte. Darüber hinaus verwirft die IHRA-Definition potenziell alle nicht-zionistischen Visionen über die Zukunft des israelischen Staates als antisemitisch, wie z.B. das Eintreten für einen binationalen Staat oder einen säkularen demokratischen Staat, der alle seine Bürger gleichwertig vertritt. Echte Unterstützung für das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes kann weder die palästinensische Nation noch irgendeine andere ausschliessen.

  5. Wir sind der Meinung, dass kein Recht auf Selbstbestimmung das Recht einschliessen sollte, ein anderes Volk zu entwurzeln und es an der Rückkehr auf sein Land zu hindern, oder andere Mittel zur Sicherung einer demographischen Mehrheit innerhalb des Staates anzuwenden. Die Forderung der Palästinenser nach ihrem Recht auf Rückkehr in das Land, aus dem sie selbst, ihre Eltern und Grosseltern vertrieben wurden, kann nicht als antisemitisch interpretiert werden. Die Tatsache, dass eine solche Forderung bei den Israelis Ängste auslöst, beweist weder, dass sie ungerecht ist, noch dass sie antisemitisch ist. Es handelt sich um ein völkerrechtlich anerkanntes Recht, wie es in der Resolution 194 der Generalversammlung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948 verankert ist.

  6. Die Antisemitismus-Beschuldigungen gegen jede/n, die/der den bestehenden Staat Israel als rassistisch betrachtet, ungeachtet der tatsächlichen institutionellen und verfassungsrechtlichen Diskriminierung, auf der er beruht, läuft darauf hinaus, Israel absolute Straffreiheit zu gewähren. Auf diese Weise kann Israel seine palästinensischen Bürger abschieben, ihnen die Staatsbürgerschaft entziehen, oder ihnen das Wahlrecht verweigern und ist trotzdem immun gegen den Vorwurf des Rassismus. Die IHRA-Definition und die Art und Weise, wie sie angewandt wurde, verhindern jede Diskussion darüber, dass der israelische Staat auf ethno-religiöser Diskriminierung beruht. Sie verstösst damit gegen elementare Gerechtigkeit und grundlegende Normen der Menschenrechte und des Völkerrechts.

  7. Wir glauben, dass Gerechtigkeit die volle Unterstützung des Rechts der Palästinenser auf Selbstbestimmung erfordert, einschliesslich der Forderung nach Beendigung der international anerkannten Besetzung ihrer Gebiete und der Staatenlosigkeit und Entrechtung der palästinensischen Flüchtlinge. Die Unterdrückung der palästinensischen Rechte in der IHRA-Definition verrät eine Haltung, die das jüdische Privileg in Palästina anstelle der jüdischen Rechte, und die jüdische Vormachtstellung über die Palästinenser, anstelle der jüdischen Sicherheit hochhält. Wir glauben, dass menschliche Werte und Rechte unteilbar sind und, dass der Kampf gegen Antisemitismus Hand in Hand gehen sollte mit dem Kampf im Namen aller unterdrückten Völker und Gruppen für Würde, Gleichheit und Emanzipation.

Zur Liste der Unterzeichnenden und der vollständigen deutschen Übersetzung  des Palästinakomitees Stuttgart
Englischer Originalartikel:  theguardian.com
Siehe auch: Die «IHRA Arbeitsdefinition von Antisemitismus»

 

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