Ein akademischer Boykott ist notwendig

21.08.2006

Categories: Akademischer Boykott

Im anschliessenden Artikel erläutert Oren Ben-Dor (Dozent an der Universität von Southhampton) die Notwendigkeit eines akademischen Boykotts Israels und vertritt seine Meinung gegenüber der israelischen Politik.   
 
Oren Ben-Dor
Ich schreibe als Ex-Israeli, der zufällig ein britischer Akademiker ist. Ich schreibe, weil mein Gewissen durch Erfahrung das Leid gelehrt hat, das die Folge davon ist, dass man freie historische Debatte verhindert hat. Es ist gefährlich, wenn man die Stimme des Anderen die (eigenen) nationalen heroischen Mythen nicht anzweifeln lässt.

Meine ganze Ausbildung in Israel war einseitig: der Andere wurde als Feind behandelt, als Mörder, Aufständischer, Terrorist – ohne dass man in irgendeiner Weise sein Leiden und seine Wünsche erwähnte. Für meine Lehrer - also auch für mich - war der Zionismus jenseits von Lob und Tadel; er war auf Grund von Verfolgung eine Rückkehr zum verheißenen Land ; er hat die Sümpfe trocken gelegt; er baute einen Staat, der sich auf den jüdischen Genius gründete.
Der Holocaust, in dem die Hälfte meiner Familie umkam, lieferte einen ständigen Vorrat eines geblendeten kollektiven Gedächtnisses – ein Gedächtnis des Opfer-Seins und folglich eine Quelle der Selbstgerechtigkeit, viel, viel Selbstgerechtigkeit. Der Holocaust/ Die Shoa (hebr. Katastrophe) hat in Israel immer und allein das Gedenk-Monopol – es gibt keinen Raum für die Al-Nakba (arab. Katastrophe) , der Preis, den die Palästinenser für die Schaffung des israelischen Staates zahlen mussten. Für mich und meine Lehrer waren die 750 000 palästinensischen Flüchtlinge von 1948 bittere Feinde, die in einem Krieg besiegt wurden. Es waren keine menschlichen Wesen mit Gefühlen, Erinnerungen, verlorenem Land und zerstörtem Selbstbewusstsein.

Ich schreibe diesen Artikel, weil erschreckenderweise die Leugnung und Marginalisierung des Narrativ des Anderen bis heute in israelischen akademischen Kreisen weiter geht. Ich schreibe dies als einen ersten Versuch, meine Kollegen wegen dieser Leugnung anzuklagen, eingeschlossen mich selbst von früher anzuklagen. Aber ich schreibe es nicht nur, um mein schlechtes Gewissen schnell zu beruhigen -- da ich um die Macht des kollektiven Gedächtnisses und der kollektiven Leugnung weiß. Mir ist klar, dass es dafür auch keine schnelle Reparatur gibt.
Stattdessen schreibe ich, um zwei drängende Argumente durchzusetzen, die mit der augenblicklichen Debatte über den AUT-Boykott (British Association of University Teachers) gegenüber israelischen Universitäten zu tun hat. Erstens, die Überwindung der Nakba-Leugnung innerhalb israelischer Akademien steht im Mittelpunkt einer Konfliktlösung in Palästina. Als Akademiker israelischer Herkunft weiß ich, dass ein akademischer Boykott notwendig ist, um die akademische Freiheit zu schaffen, die nötig ist, um die Nakba-Leugnung zu überwinden.
 
Die Leugnung der Nakba in den israelischen Hochschulen
Veränderungen, besonders jene, die einen Blick in den Spiegel erfordern, müssen wachsen. Der Teufelskreis aus Opferrolle und Hass muss von beiden Seiten durchbrochen werden und muss von innen her gelöst werden und weniger mit dramatischer Gebärde wie äußere Verbrechens- und Straflogistik.Genau das ist der Grund, warum etwas gegen die Leugnung und die Marginalisierung der Nakba in israelischen Hochschulen getan werden muss. Die grundsätzliche Veränderung, die Israel so dringend benötigt, kann solange nicht geschehen, bis nicht das Narrativ des anderen angehört und akzeptiert wurde. (s. auch Uri Avnery: „Wahrheit gegen Wahrheit“ – 101 Thesen)
Es sollte erwähnt werden, dass Dr. Ilan Pappe, Uni Haifa, zu einem allgemeinen Boykott israelischer akademischer Institutionen aufgerufen hat – sein Aufruf wurde ungenau wiedergegeben und in der Begründung begrenzt, die von den Befürwortern der AUT-Boykott-Bewegung, Haifa betreffend, gegeben wurde. Wie ich Pappe verstehe, bezieht sich sein Boykottaufruf auf die Art und Weise, wie Israels Akademien direkt oder indirekt jeden Diskussionsversuch über die Verbrechen des Zionismus in Palästina zum Schweigen bringen oder marginalisieren. Wie ich Pappe verstehe, versucht er einen Boykott all jener israelischen Institutionen, die diese Debatte zum Schweigen bringen.
Pappe protestiert gegen die Zensur, die von der vorherrschenden zionistischen Stimme in Israel auferlegt wird, wie sie auf der äußerst stagnierenden und unkritischen akademischen Plattform/ Bühne manifestiert wird. Sie hindert jede Möglichkeit der Debatte, ja, rechtfertigt damit (sogar) die Verbrechen des Zionismus.
Mit sehr wenigen ehrenhaften Ausnahmen, von denen Pappe eine ist, betrachten sich diese Akademiker selbst als ein Teil der israelischen Linken. Sie sind aber Bestandteil der zionistischen Stimme, die die palästinensische Stimme zum Schweigen bringt. Die israelische Linke war schon immer gegen die Besatzung der Westbank und des Gazastreifens. Die Besatzung wird dort nicht geleugnet, auch nicht unter den Akademikern oder allgemein in Israel; es gibt viele „Friedensaktivisten“, die nach dem Ende der Besatzung rufen. Aber es ist wichtig zu sehen, dass die israelische zionistische Linke die Geschichte des Anderen verschweigt, indem sie das Problem auf die „Besatzung von 1967“ beschränkt.
Wenn erst einmal das Problem in dieser Weise eingegrenzt ist, können diese Linken die Rolle der „Unschuldigen“ annehmen, die ungerechterweise durch einen Boykott zur Zielscheibe werden, deren Förderer aber die israelischen Hochschulen für die umfassendere (also die ganze) Geschichte öffnen wollen. Diese zionistischen Linken haben guten Grund, ängstlich zu sein: sie selbst sind das sehr raffinierte Hindernis für die Debatte, die Pappe bewirken will, aber in der nationalistischen Hochschule nicht bewirken kann – nämlich die Debatte über den Zionismus. Falls die Debatte in Israel erfolgreich wäre, würde sie die Authentizität der israelischen Linken in Frage stellen.
Es geht nicht (nur) um die Besatzung der Gebiete von 1967, die im Mittelpunkt der Debatte der israelischen Hochschulen steht und die vertuscht und marginalisiert wird. Das große Problem stattdessen ist die zionistische Besatzung Palästinas, die Besatzung von vor 1967, die während der Errichtung des Staates die einheimische Bevölkerung vertrieben hat, weil sie einen Staat gründete, in dem eine Religion und ein Volk vorherrschen sollten. All diese „Linken“, die nun schreien, dass der akademische Boykott aufgehoben werden soll (welch Überraschung!) – und sich selbst Unterstützer der palästinensischen Sache nennen, sind selbst Gefangene des zionistischen Tabus, dessen Lehre sie nicht wollen. Sie sind aber unfähig, sie zu hinterfragen.
 
Um akademische Freiheit zu schaffen, ist ein Boykott nötig
Eine akademische Debatte, die durch aktiven oder passiven Nationalismus zum Schweigen gebracht wird, ist offensichtlich eine unterdrückte akademische Freiheit. Das ist nicht nur nach der Behandlung von Pappe und einiger seiner Kollegen durch die Haifaer Universität deutlich geworden, sondern auch durch das Unvermögen, eine wichtige Debatte zu führen, die in israelischen akademischen Kreisen eben nicht geführt wird. Die herrschenden Paradigmen für Debatten sind wohl gehütet – um die Totalität der zionistischen Besatzung von Palästina aus der Diskussion zu halten. Nur ein gut informierter und fester Boykott von außen wird diese pathologische akademische Mitschuld/ Mittäterschaft ändern und die zionistische Frage verschlossen halten.
Doch warum ein Boykott gegen alle israelischen Akademiker? Sind sie nicht unschuldige Leute, die nur Wissen voranbringen/ vermitteln. Sollen wir neutrale akademische Aktivitäten mit politischen Debatten vermischen? Die Antwort ist, dass alle israelischen Akademiker Komplizen der unterdrückenden, delegitimierenden und marginalisierenden Debatte ihrer Institute sind. In dem sie nicht ihre Stimmen gegen ihre korrupten Institute erheben, betrügen sie die Ideale, von denen sie als Akademiker geleitet werden sollten. Die offiziellen Antworten der Haifaer Uni auf die AUT-Boykott-Resolution zeigen den Mangel interner Bereitschaft und bestätigt genau, warum Druck von außen nötig ist. Tiefliegende Fesseln, die im israelischen Kollektivgedächtnis eingebettet sind, werden den Anfang einer akademischen Debatte nicht erlauben, die das Zerstören dieser Hemmschwellen zur Folge hat.
Diese israelischen Hemmschwellen sind enttäuschend, aber die sich daraus ergebende Notwendigkeit für Druck von außen muss anerkannt werden. In Anbetracht dessen sind die getrennten, institutionellen Antworten einiger führender britischer Universitäten auch enttäuschend und spielen in die Hände der zionistischen Lobby.Kritik am Boykott wird in Worte der Notwendigkeit von akademischer Freiheit gefasst. Wie paradox ist doch diese akademische Freiheit, die genau in der israelischen Akademie fehlt, die gerade der starke Beweggrund für die Schaffung des Boykottes ist. Sie ist es, deren angebliche Existenz von den Kritikern des Boykotts, einschließlich britischer Institutionen, instrumentalisiert wird.
 
Der allgemeine Boykott
Lassen wir für einen Augenblick das Thema der Nakba-Leugnung in den Universitäten beiseite, da gibt es trotzdem vertretbarerweise sehr gute Gründe für einen allgemeinen Boykott Israels wie z.B. in den Bereichen von Handel, Sport etc. Hier Parallelen mit Süd-Afrika zu ziehen, ist nicht fehl am Platze. Solch ein Boykott sollte gesondert gesehen werden von einem, der gegen die Nakba-Leugnung der israelischen Hochschulen gerichtet ist. Wenn Akademiker in einen allgemeinen Boykott eingeschlossen werden, ist es die Folge ihrer Zugehörigkeit zu einer Bevölkerung, die boykottiert wird, weil sie verschiedene Aktivitäten eines kriminellen Staates unterstützt.
Auch wenn über das größere Problem zionistischer Schuld an der Nakbah geschwiegen wird, gibt es unter Israelis eine ausgedehnte innere Debatte über die Besatzung des Landes, das 1967 erobert wurde. Dies hat ein Stadium erreicht, wo ein allgemeiner Boykott gegenüber Israel helfen würde, die Besatzung mit den vielen Verbrechen und die daraus resultierenden Menschenrechtsverletzungen zu stoppen.
 
Es ist nicht nur die Besatzung – es ist auch die Nakba
Vom palästinensischen Standpunkt aus würde ein Ende der Besatzung aber nicht das wirkliche Problem erfassen. Noch einmal werden die Israelis bei ihrem Rückzug aus den Besetzten Gebieten die Gelegenheit sicherlich wahrnehmen, das wirkliche Problem tot zu schweigen. Jeder Boykott muss sich davon überzeugen, dass die Welt Israel nicht los lässt, auch wenn es die Besatzung (der 1967-Gebiete) aufgibt. Der Boykott muss auch verlangen, dass das Problem des Rückkehrrechtes der Flüchtlinge nach Israel nicht beiseite geschoben wird. Keiner ist berechtigt, das individuelle palästinensische Recht in dieser Sache zu beseitigen oder diese Rechte zwangsweise in Kompensation umzuwandeln. Das Flüchtlingsproblem ist ein zionistisches Verbrechen, ein israelisches Verbrechen und als solches müssen sich die Israelis damit auseinandersetzen – egal welche Folgen seine Wiedergutmachung für das Image des Landes haben wird.
 
Ein Wort der Vorsicht
Wenn man einen Boykott verhängt, um die Israelis dahin zu bringen, das palästinensische Recht der Rückkehr zu akzeptieren, dann sollte man behutsam vorgehen. Es ist nicht wie bei der 1967-Besatzung – es wäre naiv, von einem Boykott unmittelbar eine Lösung des Flüchtlingsproblems zu erwarten. Israel (und wohl einige der sog. „moderaten“ Palästinenser) müssen mit dem Flüchtlingsproblem konfrontiert werden. Aber Israel muss auch die Zeit gegeben werden, sich intern damit zu befassen. Vorsicht ist geboten, weil dies der Punkt ist, wo der zionistische Nerv blank liegt.
Im Augenblick würde es ein Fehler sein, den Boykott ausgesprochen gegen den Zionismus zu führen. Die Israelis sind noch nicht bereit, auf einen so bezeichneten Boykott zu reagieren. Nichts würde mehr in die Hände jener arbeiten, die bereit sind, das israelische Gefühl der Opferrolle zu manipulieren, als ein Boykott „gegen den Zionismus“. Das zionistische Gefühl würde dadurch nur noch stärker.
Den Israelis einen Spiegel vors Gesicht halten, sie der unbewussten Haltung ihres Rassismus auszusetzen, muss langsam geschehen, wenn man das gewünschte Ziel erreichen will: die allmähliche Anerkennung, dass „ein jüdischer und demokratischer Staat“ ein Oxymoron darstellt; eine Anerkennung, die hoffentlich das allmähliche Verschwinden des jüdischen Staates zugunsten einer echten Koexistenz veranlasst. Dieser Prozess, der die israelische Gesellschaft dahin bringt, über die Beziehungen zwischen Zionismus und dem Jüdischsein nachzudenken, benötigt Zeit. Auch die Palästinenser benötigen Zeit, um ihren Nationalismus zu überwinden, der durch das Opfer-Sein und den Hass – beides eine Folge der erlittenen aktuellen und symbolischen Unterdrückung und Beherrschung - sich verstärkte.
Es war der exkommunizierte jüdische Philosoph Baruch Spinoza, der als eines seiner Hauptprinzipien die Idee der „Behutsamkeit“ hatte. Das „Wie“ ist so wichtig wie das „Was“. Der Fall Israel ist einmalig, in seiner Geschichte, in seinen Leugnungen und Komplexen/ seiner Vielschichtigkeit. Ein schlecht bezeichneter Boykott wird den internen Prozess nicht in Gang bringen – und das bedeutet Blutvergießen.
 
Der akademische Boykott ist notwendig, um den Prozess in Gang zu bringen
Eine endgültige Lösung der Krisis in Palästina erfordert, dass die Israelis sich ihrer Verantwortung für die palästinensische Nakba stellen. In erster Linie, ja exklusiv, ist es in den israelischen Hochschulen nötig, dass die längst fällige Debatte beginnt.
Doch damit dies geschieht, muss akademische Freiheit, die Nakba-Leugnung und die zionistische Frage zu debattieren, nicht nur „erlaubt“ oder „gewährt“ werden. Damit akademische Freiheit wirklich ihre Aufgabe erfüllen kann und ihren Wert hat, ist viel mehr nötig. Man möge sich daran erinnern, dass gegenwärtig die Debatte über Zionismus und die Nakba der unkritischen israelischen Psyche äußerst unwillkommen ist. Darum sollte man die aktive Legitimierung, die Erleichterung, die Sorge, dass solch eine Debatte entsteht, als eine Pflicht ansehen, die den israelischen Hochschulen und ihren Akademikern obliegt. In anderen Worten: dieser Debatte muss auf dem Marktplatz der Ideen in Israel die gleiche Chance im Wettbewerb gegeben werden. Dafür ist aktive Mithilfe nötig, um den augenblicklichen Nachteil auf diesem Markt zu kompensieren. Die israelische Akademie muss spezifische Ressourcen und Möglichkeiten liefern, damit die Debatte beginnen kann. Aber jeder, der bereit ist, sich den Fakten zu stellen, kann aus dem, wie die Haifaer Universität Ilan Pappe behandelte - und die er zu verteidigen versuchte – sehen, dass ohne Druck von außen, solche Vorbedingungen nicht geschaffen werden. Wenn es keinen anderen Grund gäbe, dann wäre der allein schon für einen akademischen Boykott ausreichend.
Der akademische Boykott ist nicht nur eine andere Facette eines allgemeinen Boykotts. Er ist viel bedeutender als dieser. Der akademische Boykott ist von zentraler Bedeutung, damit der Prozess der israelischen Selbstprüfung beginnen kann. Das ist die Hauptvorbedingung für die Lösung des Konfliktes.
Mai 2005
 
Oren Ben-Dor, ursprünglich aus Israel, ist Dozent für Jura an der Universität von Southhampton in Großbritannien.
(dt. Ellen Rohlfs)

Quelle: Palaestinensische Gemeinde

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